Montag, 12. Februar 2018

Schumpeters Demokratietheorie

Schumpeter vertritt eine nüchterne, realistische, praktische, unideologische  Version von Demokratie, die sich anlehnt an Grundzüge des Kapitalismus: der Herrschaft des Marktes, des Wettbewerbs um Anhänger durch die Bereitstellung von attraktiven Angeboten. Demokratie ist geregelter Wettbewerb von Machtaspiranten um Stimmen, das heißt Machtpositionen. Sie ist kein Ziel, kein Wert an sich.

Schmidt (2000, 209) fasst zuspitzend zusammen:

"In der Demokratie [...] geht es nicht vorrangig um Selbstbestimmung, Machtteilhabe, Streben nach Gemeinwohl oder Repräsentation, sondern darum. politische Produkte im Tausch gegen Stimmen zu verhkaufen: 'democracy is not fundamentally about representation; it is about selling a product - government output - in exchange for votes" (Shapiro/Hacker-Cordin 1999c: 4)."

Realistisch sei diese Anschauung, weil sie den tatsächlichen Gegebenheiten und nicht irgendwelchen idealen Wunschvorstellungen Ausdruck verleihe.

Schumpeters Ausführungen müssen in der unmittelbaren Nachkriegszeit auf viele befreiend und attraktiv gewirkt haben. Croner (1975, 103) stellt fest:

"Wohl kaum in der Geschichte der Politikwissenschaft hat jemals ein einzelnes Kapitel eines Buches einen ähnlich großen Einfluss auf eine ganze Epoche wissenschaftlichen Denkens in einem bestimmten Land ausgeübt. Nahezu das gesamte Vokabular, einschließlich der zum Markenzeichen gewordenen Bezeichnung 'realistisch', findet sich schon hier bei Schumpeter."

Argumente gegen die klassische Theorie der Demokratie nach Schumpeter

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Die Pnyx mit Rednertribüne, in klassischer Zeit Ort der attischen Volksversammlung.

Schumpeter lehnt die klassische Theorie der Demokratie ab. Gründe:


  1. Die Idee des Gemeinwohls ist eine Fiktion: "Erstens gibt es kein solches Ding wie ein eindeutig bestimmtes Gemeinwohl, über das sich das ganze Volk kraft rationaler Argumente einig wäre oder zur Einigkeit gebracht werden könnte." (1950, 399)
  2. Selbst wenn, eine Konkretisierung des Gemeinwohls wäre nicht möglich: "Selbst wenn aber zweitens ein hinreichend bestimmtes Gemeinwohl [...] sich als für alle annehmbar erwiese, würde dies nicht ebenso  bestimmte Antworten auf einzelne Probleme implizieren." (1950, 400)
  3. Gibt es kein Gemeinwohl bzw. keine mögliche Einigkeit über die Mittel die zur Herbeiführung des Gemeinwohls führen, so verflüchtigt sich auch die Idee des Volkswillens, "denn dieser Begriff setzt die Existenz eines eindeutig bestimmten Gemeinwohles voraus, das von allen erkannt werden kann." (1950, 400) Also: So etwas wie den Willen des Volkes gibt es nicht. Es ist eine mystische Fiktion. (s.u.5.)
  4. Es trifft weder zu, dass die Individuen regelmäßig bzw. in größerem Umfange über die politischen Angelegenheiten gut informiert wären, noch dass sie ihre Entscheidungen mit großer Rationalität fällten. Zur Vorstellung des mündigen Bürgers in der Politik:"So fällt der typische Bürger auf eine tiefere Stufe der gedanklichen Leistung, sobald er das politische Gebiet betritt. Er argumentiert und analysiert auf eine Art und Weise, die er innerhalb der Sphäre seiner wirklichen Interessen bereitwillig als infantil anerkennen würde. Er wird wieder zum Primitiven. Sein Denken wird assoziativ und affektmäßig." (1950, 416f.)Vgl. den Abschnitt III. Die menschliche Natur in der Politik (1950, 407-420). Zudem gibt es keine überall und jederzeit gleichartige Rationalität. Vernunft ist an Raum und Zeit gebunden. 
  5. Es ist nicht so, dass der "Volkswille" die Politik bestimmte, sondern eher umgekehrt, "Gruppen, die Privatinteressen verfolgen" bestimmen den Volkswillen: Sie sind fähig, "den Volkswillen zu formen und innerhalb sehr weiter Grenzen sogar zu schaffen. Wir sehen uns bei der Analyse politischer Prozesse weithin nicht einem ursprünglichen, sondern einem fabrizierten Willen gegenüber. Und oft ist es einzig dieses Artefakt, das in Wirklichkeit der volonte generale der klassischen Lehre entspricht." (1950, 418)

Schumpeters Demokratietheorie: zentrale Aussage

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Der Kern von Schumpeters Demokratietheorie wird ersichtlich aus der Gegenüberstellung zweier Demokratiekonzepte, einerseits der "klassischen Lehre der Demokratie" (ausgeführt im 21. Kapitel von "Kapitalismus. Sozialismus und Demokratie", Bern: Franke 1950, S. 397-426), andererseits "einer anderen Theorie der Demokratie" (dargestellt im 22. Kapitel, S. 427-450).

Stellen wir beide Auffassungen in Worten Schumpeters gegenüber:

klassische Theorie der Demokratie
die Philosophie der Demokratie im 18. Jahrhundert
andere Theorie der Demokratie
Elitentheorie der Demokratie
Konkurrenztheorie der Demokratie
institutionelle Ordnung zur Erzielung politischer Entscheide, die das Gemeinwohl dadurch verwirklicht, dass sie das Volk selbst die Streitfragen entscheiden lässt und zwar durch die Wahl von Personen, die zusammenzutreten haben, um seinen Willen auszuführen (397)
diejenige Ordnung der Institutionen zur Erreichung politischer Entscheidungen, bei welcher einzelne die Entscheidungsbefugnis vermittels eines Konkurrenzkampfs um die Stimmen des Volkes erwerben (428)
realistisch

Zur allgemeinen Einschätzung - auch der Schumpeter im Rahmen des Philosophieabiturs doch recht prominent zu verorten - hilfreich sind vielleicht die Ausführungen Fritz Croners (1975, 102):

"Aber ehe wir uns ernsthaft einer Konfrontation der klassischen und der Eliten-Theorie der Demokratie zuwenden, müssen wir uns näher mit der Frage beschäftigen, wie es zu dieser, heute in weitem Umfang die Welt, die Politik, die Politikwissenschaft und die Haltung großer Kreise 'gewöhnlicher' Staatsbürger beherrschenden elitären Theorie gekommen ist.

Zuvor sei nur noch festgestellt, dass es sich bei diesem Streit um das 'Wesen' der Demokratie keineswegs nur oder in erster Linie nur um wissenschaftliche Feinheiten, theoretische Haarspaltereien oder gar um semantische Willkürlichkeiten handelt. Die Haltung der Menschen zu dem, was Demokratie ist oder sein soll, konstituiert die entscheidende Prämisse für das soziale Zusammenleben, für die Art, wie die Menschen miteinander leben können oder wollen, über alle gegensätzlichen Auffassungen im einzelnen hinweg, also auch über alle sogenannten 'weltanschaulichen', sprich: politischen Differenzen hinweg." (Herv. JHW)

Schumpeter

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Anstelle von Rawls tritt Schumpeter ein als neuer inhaltlicher Schwerpunkte für die zentralen Abiturprüfungen 2019 und 2020 in NRW.

Die Ersetzung findet statt im Inhaltsfeld 5: 

"Zusammenleben in Staat und Gesellschaft" 

und gilt für den Bereich "Konzepte von Demokratie und sozialer Gerechtigkeit". 

(Entsprechendes gilt für die Weiterbildungskollegs. Dort ist das Inhaltsfeld 4 betroffen.)


Verwiesen wird auf "Kernstellen aus 

Schumpeter: Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie
(Vierter Teil, 22. Kapitel I.)

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Worin besteht die Bedeutung Schumpeters innerhalb der Demokratietheorie bzw. der Theorie sozialer Gerechtigkeit?